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Historikertag 2010 in Berlin diskutiert die "Genealogie der Menschenrechte"
Die klassische juristische Sicht der Menschenrechte sieht deren Ursprung in den Ideen der Aufklärung. Im späten 18. Jh. sind die Menschenrechte schließlich in den unabhängig gewordenen Vereinigten Staaten von Amerika und im revolutionären Frankreich erstmals in Verfassungsurkunden verbrieft worden.
Jürgen Kaube berichtete in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am Sonntag vom 9. 10. 2005 über einen Vortrag des Weber-Soziologie-Professors Hans Joas (Erfurt/Chikago) in einem mit „Die Erfindung der Werte“ überschriebenen Artikel:
„Es gibt zwei Geschichten vom Ursprung der Menschenrechte. Die eine hält sie für eine Geburt des Christentums. Die andere Erzählung hingegen lautet: Erfunden wurden die Menschenrechte im 18.Jahrhundert aus dem Geist der Aufklärung, verankert waren sie in der Vorstellung, Humanität sei am besten innerhalb eines säkularen Weltbildes aufgehoben. ...
Der Soziologe Hans Joas [hat jedoch] beiden Herleitungen widersprochen. Universelle Werte, so Joas, werden nicht aus Vernunfterwägungen heraus plausibel. Das spreche gegen einen „nur“ philosophischen Ursprung der Menschenrechte aus dem Naturrechtsdenken der Zeit um 1800. Wer jedoch christliche Ursprünge der Menschenrechte behaupte, müsse sich die Frage gefallen lassen, warum es seit der Spätantike mehr als 1700 Jahre gedauert habe, bis sie sich geltend machen konnten. .... [Eine andere Theorie hat] der Staatsrechtler Georg Jellinek schon 1895 vorgelegt. Danach waren es religiöse Gruppen im vorrevolutionären Amerika,denen sich die Idee verdankt, allen Menschen dieselben Rechte zuzusprechen. Ihre Forderung nach Religions- und Gewissensfreiheit habe erst alle anderen Menschenrechte mit durchgesetzt. Der wichtigste Schritt sei dabei der gewesen, auch für andere religiöse Gruppen eine solche Freiheit zu fordern. Jellineks Ursprungs-Heroe war der Calvinist Roger Williams, der schon 1636 in Providence (Rhode Island) eine allgemeine Religionsfreiheit proklamierte.“
Dies lenkt den Blick auf die Geschichte der Reformation in Aachen während des 16. und 17. Jh., die unter dem Titel „Verfassung und Bekenntnis“ Gegenstand einer Dissertation an der RWTH Aachen war [Schmitz, Walter, Verfassung und Bekenntnis – Die Aachener Wirren im Spiegel der kaiserlichen Politik (1550 – 1616), Europäische Hochschulschriften Reihe III – Geschichte und Hilfswissenschaften Bd. 202, Ffm/Bern/New York 1983, Diss. RWTH Aachen].
Die Unterdrückung der Reformation in den Niederlanden führt wegen des Zuwachses von flüchtigen Glaubensbrüdern zu deren Erstarken in Aachen. 1552 wurde der den Protestanten zugeneigte Bürger Adam von Zevel zum Aachener Bürgermeister gewählt. Er konnte sich allerdings im Rat mit den Forderungen, die er in einer Denkschrift darlegte, die u.a. die Aufnahme der neuen „Beywohner“ in die Zünfte betrafen, nicht durchsetzen. Diese Aufnahme wäre einer Einbürgerung nahe gekommen. Der Rat ließ immerhin zu, die Zünfte zu befragen, die sich Bürgermeister von Zevel jedoch nicht anschlossen. Seinem geschäftlichen Interesse waren die neuen Fachkräfte sehr dienlich, die Zünfte sahen in ihnen aber eher überflüssige Konkurrenten. Dennoch blieb von Zevel im Rat bei seinem Vorschlag, den Flüchtlingen Aufenthalt zu gestatten. Der Antrag wurde nicht nur abgelehnt, sondern sogar die Ausweisung der Aufgenommenen beschlossen. Die protestantisch gesinnten Ratsmitglieder schieden daraufhin aus Protest sofort aus dem Rat aus. Adam von Zevel erklärte entsetzt, er könne so sein Amt als Bürgermeister nicht versehen, und zog sich wieder auf sein Gut im nahen Bardenberg zurück.
Der Rat ließ auf dem Augsburger Reichstag von 1555 wie schon 1530 durch seinen Syndikus Dr. Gerlach Radermacher erklären, dass sich Aachen ausschließlich zum alten Glauben bekenne.1558 empfahlen die lutherischen Fürsten auf dem Reichstag, den Protestanten eine Kirche zu überlassen. Dem kam der Rat jedoch nicht nach. Ein vom Reichskammergericht zu Speyer eingeholtes Rechtsgutachten, wonach die Zulassung protestantischer Predigten rechtens wäre, ließ ihn unbeeindruckt.
Im Verborgenen wuchsen die protestantischen Gemeinden allerdings weiter. Bald waren es die der Reformation nahe stehenden Aachener Bürger leid, ihrem Glauben weiterhin im Verborgenen zu praktizieren und beim Rat, der die wiederholten Anträge auf Zulassung eines Predigers oder Bereitstellung einer Kirche stets abschlägig beschied, kein Gehör zu finden. Sie wandten sich am 10. April 1559 mit einer förmlichen Eingabe an Kaiser Matthias und die Kurfürsten, Reichsfürsten und sonstigen Reichsstände mit der Bitte, „das uns die Augspurgische Confession, so nach viel gemelten gehaltenen reichstag zu Augspurg vielen freien reichsstetten urlaubt und aufzurichten gestattet und uns aber disses orts biss anhero geweigert und abgeschlagen … auch allergnedigst genedigts, genedigliche vergont und zugelassen.“ Einleitend stütze sich die Bittschrift ausdrücklich auf ihre sich aus dem Augsburger Religionsfrieden ergebenden Rechte: „Nachdem im verschinen funf und funfzigsten jar der minderen zal durch die zu Augspurg ein religion fried aufgericht, bewilligt, publiciert und angenommen ist worden, darinen einen jederen stand des H.R. Reichs die augspurgische confession als eine christliche und evangelische religion bestetiget und, hinfurter ufzurichten, urlaubt, auch ferner recht, loblich und wolversehen, das ein ein jeder stand des heiligen Reichs bei obgenannter Augsburgischer Confession, religion, glauben, kirchenordnung, ceremonien, also er hir aufgericht oder nochmals aufrichten wurd, ruhelich, onbeschwert und onverhindert pliben soll…“.
Man fühlte sich also im Recht. Gleichwohl konnten sich die Protestanten erst 1580 gegen den Widerstand der Altgläubigen durchsetzen. Die protestantische Ratsherrschaft wurde durch Intervention des Reiches mit Reichsacht, die 1598 vollzogen wurde, beendet. Die Protestanten, sofern sie nicht Aachen ganz verließen, standen nun unter starker Kontrolle. Daß selbst der Besuch des evangelischen Gottesdienst außerhalb der Jurisdiktionsgewalt der Reichsstadt Anlaß zu Sanktionen war,führte zur Verbitterung. 1611 kam es zu einem Aufstand, der sich vor allem gegen die Jesuiten als Träger der Gegenreformation richtete. Der Rat forderte die Protestanten auf, ihre Forderungen darzulegen.
Gegenüber den Strafen für religiöse Vergehen und hinsichtlich des Verfahrens zur Inhaftierung von Bürgern beriefen die Protestanten sich auf das alte Herkommen in Aachen. Es müsse Religionsfreiheit nach dem Augsburger Religionsfrieden geben. Auch die Protestanten wären zu den Zünften zuzulassen. Deren Vorsteher wären aus beiden Konfessionen zu wählen.
Der Rat widersprach den Forderungen nicht bzw. wich ihnen unter Hinweis auf andere Zuständigkeiten aus. In der aufgeheizten Atmosphäre führte das prompt zu noch beharrlicheren und weitergehenden Forderungen. Man erinnerte an den Gaffelbrief von 1450 (oben in einer nicht autorisierten Fassung der Frühen Neuzeit wieder gegeben), der die politische Teilhabe am Stadtregiment nicht von der Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Konfession abhängig gemacht habe. Der Gaffelbrief war allerdings schon einige Generationen vor der Reformation Grundlage der städtischen Verfassung geworden. Aber jetzt berief man sich auf seinen Text und verlangte unabhängig von der Konfession die gleichen politische Teilhaberechte, wie sie in Aachen nach der Niederwerfung der Reformation 1598 nur den Katholiken zugestanden waren. Die 1636 in Providence vom Calvinisten Roger Williams gestellten Forderungen waren als Argument in der politischen Auseinandersetzung und Idee also schon zuvor in Aachen – und vermutlich nicht nur hier – vorhanden. Die Reformation setzte sich wieder gewaltsam durch und wurde dieses Mal nach nur vier Jahren erneut nieder geworfen. Die Idee der religiösen Freiheit unterlag und geriet in Vergessenheit.
Wie kürzlich der Vortrag von Prof.Heike Wüller an den Tag brachte, tauchten die Idee politischer Freiheiten und der Menschenrechte noch vor Ende der reichstädtischen Zeit und lange vor den ersten Verfassungskodifikationen wieder in Aachen auf.
Im „Zweiten Capitul“ des 1790 vorgelegten Entwurfes einer „verbesserten Constitution“ für Aachen von Christian von Dohm (s. sein obiges von Karl Christian Kehren stammendes Gemälde aus dem Gleimhaus in Halberstadt) waren Freiheits- und Menschenrechte (hier textlich etwas zusammengefaßt) vorgesehen:
§ 1 Jeder Bürger Aachens ist ein freier Mann.
§ 2 Alle Bürger sind gleichberechtigt. Leben, Freiheit der Person und Eigentum sind geschützt.
§ 3 Freiheitsentziehungen über 48 Stunden hinaus bedürfen der Prüfung durch ein ordentliches Gericht.
§ 4 Jeder kann frei über Eigentum und Vermögen verfügen und Handelund Gewerbe treiben.
§ 5 Abgaben dürfen nur aufgrund Gesetzes erhoben werden.
§ 6 Jeder kann der an der jährlichen Rechnungslegung teilnehmen.
§ 7 Die Gedanken sind frei. Beschwerden dürfen dem Bürgerausschuß vorgelegt werden.
Nach dem „dritten und vierten Capitul“ hatten Bürger die gleichen politischen Teilhaberrechte und hatte jeder Sohn eines Aachener Bürgers automatisch das Recht, sich zum Bürgerrecht anzumelden. Zugezogene konnten das Bürgerrecht erwerben.
Beschränkungen nach Stand oder Konfession enthielt der Entwurf nicht. Ausgeschlossen von allen Rechten waren allerdings noch die Frauen.